Zwischen Chancen und Risiken der Digitalisierung bewegte sich der »Blick über den Tellerrand« im Februar – von genial bis zu katastrophal. Referent Prof. Dr. phil. Dr. med. Michael Kastner diagnostiziert die zentralen Herausforderungen der Entwicklung besonders im Bereich der Ethik.

»Der Tsunami, der mit der Digitalisierung auf uns zu kommt, wird nicht begriffen«, warnt der Psychologe. Die technischen Entwicklungen aus IT, Gen- und Nanotechnik sind schnell und steigen meist exponentiell, dagegen ist die menschliche Entwicklung linear und nicht schnell genug. In diesem Kontext hat Kastner den Begriff der Dynaxität geprägt. Der Leiter des Instituts für Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin drückt damit die Verschmelzung von Dynamik und Komplexität aus.

Strukturwandel in der Arbeitswelt

Als Organisationspsychologe macht er diese Dynaxität auch als Ursache für viele Belastungen in der Arbeitswelt aus. »Unser Jahrhundert ist das der Depressionen«, so Kastner. Nicht nur Produkte werden komplexer, die Technik und Globalisierung machen alles unübersichtlich und dynaxischer. Davon seien alle Lebensbereiche betroffen, der Mensch komme als emotionales und soziales Wesen einfach nicht mehr hinterher. Ein Phänomen, in dem das deutlich wird: Paradoxerweise bleibt uns trotz digitaler Vereinfachung von Prozessen weniger Zeit für uns selbst.

Kastner greift immer wieder unterhaltsame Beispiele aus der Arbeitswelt oder dem privaten Bereich auf. In seiner Funktion als Berater gibt er Tipps an Unternehmen und Führungskräfte, auch mal unkonventionelle wie: »Ein Manager-Meeting, das mit mehr als drei Männern abgehalten wird, sollte besser erst auf den Mittag verschoben werden, denn der Testosteronspiegel sei morgens höher«. Mittags, nachdem alle gegessen haben, verlaufe so ein Termin wesentlich ruhiger und konstruktiver.

Digitalisierung verändert – wer sich nicht mitbewegt, bleibt auf der Strecke

Einer seiner Hauptthesen: Die Natur hat den Menschen nicht für ein solches Leben konstruiert. Auch die demographische Entwicklung werde das Problem noch verstärken. »Wir sind Lauftiere und auch Tarnen und Täuschen gehört zu unserer Natur«, so beschreibt Kastner den Menschen. »Es wird immer weniger Menschen geben, die in der Lage sind, dem Druck und Tempo standhalten. Denn auch die Anforderungen steigen schneller als das intellektuelle Potenzial der meisten Menschen«. In der Arbeitswelt muss die Konsequenz heißen: Attraktive Arbeitgeber steuern mit konkreten Maßnahmen dagegen.

»Die Welt verändert sich, entweder Du veränderst Dich mit, oder Du wirst verändert und läufst immer nur hinterher. Doch Veränderung kostet Energie und unser Gehirn ist ein Energiesparer«, konstatiert der promovierte Mediziner und Philosoph. Das gelte nicht nur für jeden Einzelnen als Person, sondern auch für Deutschland als Gesellschaft. Auch unsere Demokratie sei durch die Digitalisierung gefährdet. Die Politik und das Recht hinken hinterher, denn sie entstammen einem alten Jahrtausend, in der Digitalisierung und Globalisierung noch kaum eine Rolle gespielt hat. »Wir dürfen die Gefahren nicht unter den Tisch kehren«. Gleichzeitig sollen wir von den genialen Chancen natürlich profitieren. Die Technik muss mir als Mensch dienen und nicht umgekehrt«.

Fragen zur Balance in Abschlussdiskussion

Er sieht die Lösung in »Balancen«, ausgewogenes Hantieren zwischen den Polen genial und katastrophal. Um provokative Fragen rund um diese Balance ging es auch in der anschließenden Diskussionsrunde: Wollen wir technologische Singularität? Wollen wir überhaupt ewig leben oder unsere Erde aufgeben und andere Planeten erschließen? Verändern wir für die technologische Entwicklung unseren Wertekanon? Wollen wir Verhalten »verbessern« durch Social Credit Systems wie in China vorgelebt? Was tut all dies mit unseren ethischen Moralvorstellungen? Die Antwort auf viele dieser Fragen scheint ein digitaler Humanismus. Doch wie einen solchen in unserer komplexen Realität durchsetzen? Und wer könnte dies als Instanz überhaupt leisten?

Zum Referenten und zur Vortragsreihe »Blick über den Tellerrand«

Michael Kastner studierte Medizin (Dr. med.), Philosophie (Dr. phil.) und Psychologie (Dipl.-Psych.), habilitierte sich in Psychologie (Univ.-Prof.). Er hatte 30 Jahre lang Lehrstühle für Arbeits- und Organisationspsychologie inne und ist mit dem Mannheimer Institute of Public Health (MIPH) an der Universität Heidelberg verbunden. Michael Kastner ist zudem Leiter des Institutes für Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin (IAPAM) in Herdecke, Berlin und Amerang. Ebenso leitet er die Kastner Partner Consulting (KPC) Herdecke. Zudem berät er zahlreiche Organisationen in Wirtschaft und Verwaltung und ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Beiräte.

Einmal im Monat öffnet das ITWM die Türen für alle Interessierten und lädt beim »Blick über den Tellerrand« dazu ein, gemeinsam den Horizont zu erweitern. Die interdisziplinäre Vortragsreihe des Felix-Klein-Zentrums für Mathematik präsentiert unterschiedliche Referenten mit verschiedensten Themen. Jeder ist herzlich eingeladen zuzuhören und mitzudiskutieren. Der Eintritt ist frei.

Den Text verfasste Esther Packulat vom Fraunhofer ITWM.

Foto: Fraunhofer ITWM